Leando: Die Ursprünge der Textilindustrie reichen in Deutschland bis ins Mittelalter zurück. Spinnen, Nähen oder Weben haben also eine lange Tradition. Doch wie geht es der Branche heute?
Reuter: Es ist kein Geheimnis, dass die Textilindustrie in den letzten Jahrzehnten in Deutschland geschrumpft ist. Seit 1980 hat die Branche etwa 450.000 Arbeitsplätze verloren. Heute gibt es rund 1.400 Unternehmen mit ungefähr 120.000 Beschäftigten. Der Umsatz liegt jährlich bei rund 32 Milliarden Euro. Es gibt vereinzelt große Betriebe, aber die Branche ist geprägt von kleinen und mittleren Unternehmen mit 250 bis 500 Mitarbeitenden. Dennoch ist die Textilindustrie die zweitstärkste Konsumgüter-Branche in Deutschland. Und sie hat sich zu einer Hightech-Branche entwickelt.
Wird man der Textilindustrie vor diesem Hintergrund noch gerecht, wenn man mit ihr Mode und Bekleidung assoziiert?
Die meisten Menschen denken beim Begriff Textil tatsächlich erst an Bekleidung. Textil ist aber viel mehr. In Deutschland geht es dabei vor allem um den Bereich technischer Textilien mit Funktions- und Hochleistungstextilien. Dieser Bereich macht heute schon rund 60 Prozent des Branchenumsatzes aus. Die Fertigung von Bekleidung ist nahezu vollständig ins Ausland verlagert worden und hat in Deutschland nur noch Nischencharakter. Die Zukunft der Branche liegt im Bereich technischer Textilien und nachhaltiger Geschäftsmodelle.
Was sind technische Textilien und für welche Zwecke werden sie benötigt?
Bei technischen Textilien handelt es sich um textile Materialien die aufgrund ihrer technischen und funktionellen Eigenschaften verwendet werden, nicht aus ästhetischen und dekoraktiven Zwecken. Sie werden in vielen Branchen eingesetzt, etwa im Automobilsektor, in der Raumfahrt, im Agrarbereich oder der Bauindustrie. Stadionbedachungen werden aus Textilien hergestellt, ebenso wie Netze in der Hochseefischerei. Von großer Bedeutung ist auch die Medizintechnik. Es gibt bereits Stents zur Gefäßerweiterung, die aus feinen Drahtseilen geflochten werden und damit zum Textilbereich gehören. Diese Beispiele zeigen, wie groß der Einsatzbereich von Textilien heutzutage ist.

Welche Rolle spielt Technologie beim Wandel der Textilindustrie?
Die Textilindustrie setzt auf moderne, digitale Technologien und greift dabei auch auf Künstliche Intelligenz zurück – zum Beispiel bei der Suche nach Fehlern in Farbverläufen. Und hier wird in Sachen Innovation noch mehr passieren. In intelligenter Sportfunktionskleidung können bereits spezielle Garne oder Mikrochips eingearbeitet werden, mit denen sich Puls und Atemfrequenz messen lassen. Die Branche schläft also nicht, wenn es um Fortschritt geht. Das macht die Berufe im Bereich Textil auch für junge Leute interessant.
Stellt die Nachwuchsgewinnung ein Problem dar?
Das A und O sind gut ausgebildete Fachkräfte. Der Fachkräftemangel ist in der Textilindustrie jedoch ähnlich groß wie in anderen Branchen. Eine Besonderheit ist dabei, dass die Textilindustrie nach wie vor unter einem schlechten Image leidet. Viele Leute denken etwa immer noch, dass die Produktionsstätten laut und dreckig sind. Ein Bild, das nicht der Realität entspricht.
Welche Argumente sprechen für eine Ausbildung in Textilberufen?
Es ist eine kleine und feine Branche mit spannenden Berufsbildern, die sehr gute Perspektiven bietet. Wenn man in diesem Bereich ausgebildet wird, hat man sehr gute Übernahmechancen. Die Betriebe selbst sind bei der Suche nach Auszubildenden auch sehr rührselig. Sie bieten Praktika an und gehen auf Messen oder in Schulen. Viel lebt hier von Mund-zu-Mund-Propaganda. Gleichzeitig hat man unter anderem mit der Webseite go-textile, die auf eine Initiative des Gesamtverbands der deutschen Textil- und Modeindustrie zurückgeht, ein modernes Angebot geschaffen, das die Karrierechancen in der Textilindustrie gebündelt darstellt.
Wo kann man eine Karriere in der Textilbranche starten?
In Deutschland haben sich drei textile Zentren herausgebildet: Mönchengladbach, Münchberg und Reutlingen. An diesen Orten wird die textile Berufsbildung zusammengezogen. Man hat Hochschulausbildung und duale Ausbildung unter einem Dach vereint und versucht sich so zu befruchten. Diese Zentren sind Erfolgsmodelle und gerade für eine insgesamt kleine Branche sinnvoll.
Textilakademie NRW
Das Berufskolleg in Mönchengladbach bietet sowohl Berufsvorbereitung für Schüler/-innen, Berufsschulausbildung für gewerblich-technische Ausbildungsberufe, berufliche Weiterbildungsprogramme sowie ein duales Studium in Kooperation mit der Hochschule Niederrhein.
https://www.textilakademie.de/
Staatliches Berufliches Schulzentrum Textil und Bekleidung Münchberg-Naila
Die oberfränkische Stadt Münchberg ist Heimat des vielfältigsten Textilausbildungszentrums in Deutschland. Hier wird die gesamte Palette der beruflichen Erstausbildung und der Weiterbildung im Textil- und Bekleidungsbereich abgedeckt. Es sind alle Produktionsstufen und Ausbildungsrichtungen der Textilindustrie vertreten.
https://www.textilschule.de/start.html
TEXOVERSUM Reutlingen
Das TEXOVERSUM in Reutlingen ist die weltweit führende Forschungseinrichtung auf dem Gebiet der Textil- und Faserforschung. Studierende und Forschende setzen sich hier unter anderem mit Fragestellungen aus den Bereichen Globalisierung, Nachhaltigkeit und Digitalisierung auseinander.
Nachhaltigkeit ist ein großes Thema in der Textilindustrie, nicht zuletzt durch die EU-Textilstrategie. Stellt dies ein Problem für die deutsche Textilindustrie dar?
Ja und Nein. Die EU-Textilstrategie erhöht natürlich den Druck auf die Branche, nachhaltiger zu werden. Das Schlagwort lautet hier Kreislaufwirtschaft. Alle Produkte müssen laut der EU-Textilstrategie bis 2030 recyclingfähig sein. Das Ganze kann aber auch einen sehr positiven Effekt auslösen. Wenn man nachhaltig arbeitet, spricht man damit auch wieder viele Kundinnen und Kunden an, denen das Thema sehr wichtig ist. Und auch deshalb passiert in der Branche sehr viel in Sachen Nachhaltigkeit – insbesondere in der Entwicklung umweltfreundlicher Textilien und Produktionsprozesse und bei der Entwicklung von Geschäftsmodellen für nachhaltiges Wirtschaften.

"Wie gelingt es, Nachhaltigkeit als bedeutsame Handlungs- und Lernproblematik wahrzunehmen?"
Wie kann das Ausbildungspersonal in Betrieben der Textilbranche dazu befähigt werden, nachhaltigkeitsbezogene Kompetenzen in Ausbildungsprozessen zu vermitteln? Dieser Frage widmet sich das Projekt "NIBTEX".
Im BIBB haben Sie sich lange um die Berufe der Textilwirtschaft gekümmert, etwa im Rahmen von Neuordnungsverfahren. Was zeichnet die Arbeit Ihrer Meinung nach aus?
Ich habe es immer als Privileg empfunden, für die Bildung junger Menschen tätig sein zu dürfen. Das BIBB bietet dafür einen wunderbaren Rahmen, in dem man sich auch um kleine textile Berufe wie Modist, Maßschneider oder Sattler kümmern kann. Der Aufwand einer Neuordnung ist hier der gleiche wie bei Berufen mit vielen Auszubildenden. Aber die Sache ist es wert, denn es geht gerade bei diesen Berufen auch um die Erhaltung kultureller Identität. Die Welt wäre ärmer, wenn es diese Berufe, verbunden mit dem hohen Kreativitätspotenzial und die schönen, vielfach individuellen Produkte nicht gäbe.